Geschichten vom Inselpastor
Geschichten vom Inselpastor
Komm an einem Freitag
Komm an einem Freitag
Du bist ein Nichts, wenn du auf der Insel ankommst. Denn du hast an Land alles zurückgelassen: dein Auto, dein Haus, deinen Beruf.
Vielleicht kommst du nicht allein, hast deine Familie bei dir. Die merken dir es gleich an: hier bist du nicht mehr der, der du noch eben warst. Wo gibt es…? Wann ist offen…? Wer weiß hier wo…? Du weißt nichts, kannst nichts, hast nichts, dich kenn hier keiner. Und du fragst dich: Werde ich das schaffen? Ohne Auto, ohne eine erträgliche Auswahl an Weinbranndbohnen, Hartweizengries und Primitivo? Und das alles auch noch ohne WLAN?
Du fängst auf der Insel noch einmal von vorne an. Das ist deine Chance.
Wenn du ankommst, hast du einen Rollkoffer an der Hand, die Kleidung, die du am Leib trägst und eine Kreditkarte, die dir Freiheit verspricht. Aber hier kannst du dir nicht alles kaufen. Nur das, was es hier gerade gibt. Und oft haben die Geschäfte auch noch zu. Dann stehst du da und musst überlegen, wie du deine Familie satt bekommst. „Aber zum Glück!“, denkst du dann „ich lebe hier ja nur für ein paar Tage, oder Wochen.“ Und „Eigentlich wollte ich zwar hier Urlaub machen“, aber wie macht man Urlaub ohne Damenfriseur, Baumarkt und die Möglichkeit, mal eben im Supermarkt ein Pfund Grützwurst zu kaufen, weil dir gerade danach ist? „Gibts nicht.“ „Ist hier verboten.“ oder „So was führen wir hier nicht!“ Wie stehst du jetzt da? Du musst dich mit dem zufrieden geben, was es gibt. Basta. „Und dafür zahlt man auch noch Kurtaxe?“
Du kommst als Fremder. Und du gehst als ein anderer. Du warst als du ankamst namenlos, statuslos, ohne die Möglichkeiten und Insignien deines bisherigen Lebens. Du warst bereit, alles zurück zu lassen, um hierher zu kommen. Alles, was dir sonst wichtig und wertvoll ist, was dich normalerweise ausmacht, konntest du nicht mitnehmen. Du fängst hier bei Null an. Okay, nicht ganz, aber es fühlt sich so an.
Schon auf der Fährst spürst du, das hier etwas Seltsames mit dir vorgeht. Du schälst dich aus deinem Leben und übrig bleibst nur Du.
So wirst du hier an Land gespült. Du wolltest ja unbedingt Robinson sein.
Komm das nächste Mal besser an einem Freitag.
Wenn du nur eine Woche bleibst, dann genießt du das auch, dass du ein Nichts bist, dass dich hier keiner kennt und dass du einmal alles hinter dir lassen konntest. Du fühlst dich frei. Du kümmerst dich nur um dich! Herrlich: Was esse ich heute? Wann stehe ich auf? Wo gehe ich hin? Alles wirklich offene Fragen. Und du hältst sie dir so lange offen, wie es geht. Du kannst dich frei entscheiden, was und wann du das machst, wonach dir gerade ist. Es sei denn du bist mit Kindern hier.
Nach spätestens einer Wochen fühlst du dich wieder. Denn auf einmal bist du wieder Du. Du fängst an, im Sande zu verlaufen. Du fühlst dich irgendwie wie Strandgut - angespült. Du kannst rumliegen, ganz ohne Zweck und Ziel. Du wirkst vielleicht irgendwie ein wenig mitgenommen und auf der Suche nach einer neuen Verwendung, aber das kannst du aushalten, so lange die Sonne scheint oder die Windjacke noch dicht ist. Vielleicht kann man dich hier doch noch gebrauchen, vielleicht aber auch nicht. Vieles ist ja eh nur noch Müll. Es dämmert dir, dass das, was vorher war, hier an Bedeutung verliert. Vieles von dir ist hier einfach nicht mehr zu gebrauchen. Du stehst den Kilometer langen Strand und schaust aufs Meer und die fühlst dich zugleich klein und frei. Der Wind haut dich nicht mehr um, das Rauschen ist ein Geschenk, dein Tinitus gibt endlich Ruhe.
Es gibt im Grunde nur zwei Orte: das Meer und das Dorf. Das ist so langweilig! Herrlich! Sehnsüchtig liefst du am ersten Tagen noch zum Hafen und schautest aufs Festland: Dahinten, da ist das andere Leben! „Was würde ich jetzt wohl machen, wenn ich da wäre?“ Und du träumst vom Reisen, von der Suche nach dem Glück, von der Freiheit, sich überall hin bewegen zu können. Du fühlst dich auf einmal eingesperrt. Es wird auf einmal eng hier für dich.
In den ersten Stunden, ja, da wolltest du noch für Immer bleiben! Nach 24 Stunden willst du auf einmal weg und kannst nicht. Du willst aber auch nicht vorzeitig aufgeben, denn du hast überall erzählt, dass du länger auf der Insel bleibst, und hast gescherzt, dass du vielleicht nie wieder kommst. Da kannst du jetzt nicht nach einem Tag schon wieder zurück kommen. Sie werden dich fragen: „Und wie war´s?“ Und du müssest gestehen: „Ich hab es nicht ausgehalten.“ „Wie, verstehe ich nicht?“ „Ich habe es mit mir nicht ausgehalten!“ Das kannst du dir beim besten Willen nicht eingestehen. Also bleibst du. Was bleibt dir auch anderes übrig?
Das ist normal. Das geht hier fast jedem so. Du wolltest ja unbedingt Robinson sein. Komm das nächste Mal besser an einem Freitag.
Nach einer Woche kennst du die meisten Menschen, die hier herumlaufen, vom Sehen und einige mit Vornamen. Wen interessieren Nachnamen?
Jeden Tag kommen und gehen Menschen. Du aber, du bleibst ja länger. Du hast ja drei Wochen gebucht! Das ist lang. Und auf der anderen Seite viel zu kurz.
Und dann, nach den drei Wochen, wirst auf dem Oberdeck der Fähre stehen, dir den Wind noch einmal um die Nase wehen lassen, tief ein und ausatmen und in die Weite schauen. Vor dir liegt „an Land“. Und du denkst: „Schade, dass das vorbei ist. Am Ende ging es ganz schnell.“ Und doch kommt es dir wie eine Ewigkeit vor, als du vor drei Wochen auf die Insel kamst.
Und dann schaust du zurück, jetzt liegt die Insel schon hinter dir. Und du wirst traurig sein. Traurig, dass du sie verlassen hast. Du denkst an die Cafés, deine kleine Wohnung, die drei Kirchen, die Dünen und den Sand, der dir überall hin gefolgt ist. Er wird dir sogar noch einige Tage treu bleiben und dich bei der nächsten Reise, in den Ritzen deines Koffers, an die Zeit auf der Insel erinnern. Du wirst immer wieder an diese seltsamen Tage zurückdenken, als du als ein Nichts ankamst und als Du gegangen bist.
Seitdem trägst du viel mehr blau. Überhaupt ist deine Kleidung lässiger geworden. Und dein Gang federnder. Deine Ansprüche ans Leben sind jetzt einerseits bescheidener und andererseits größer geworden, denn du hast auf der Insel gelernt, das Unwichtige abzulegen und als Ballast zu empfinden. Und dich auf wesentliches zu konzentrieren.
Das hält lange Zeit an. Genau bis zum nächsten Frühjahr. Und dann wirst du auf einmal unruhig und nervös, weil du wieder los willst, zu dem Ort, wo du immer wieder als ein Nichts anfangen kannst, um wieder Du zu werden.
Und dann fällt es dir wieder ein: Wenn du Robinson sein willst, komm an einem Freitag.
Friedemann Schmidt 2021
Gotts lüttje Stuuv
Oder Nur ganz wenige wissen Bescheid
Nur ganz wenige wissen Bescheid. Es soll auch nicht jeder wissen. Spiekeroog war immer schon ein Rückzugsort für Promis. Ob Bundespräsidenten oder Kanzler, hierhin fuhr man, wenn man mal wieder Mensch sein wollte. Hier im Sturm, in Watt und Weite, konnte man sich mal wieder so richtig in den Sand setzen, ohne dass es jemand mitbekam. Gut, die Insulaner. Die schon. Aber die hielten dicht. Bis heute. Und wenn ich das jetzt hier erzähle, begehe ich eigentlich einen Tabubruch. Aber wir sind ja gerade hier auf der Insel und es könnte sein, dass man ihm hier begegnet und dann denkt man vielleicht: „War er das? War er das wirklich?“ Und Sie fragen sich das die ganze Zeit. Er war´s, ich kann es Ihnen verraten. Zur Not war er es. Oder sie. Das ist natürlich auch möglich.
Es gibt noch einen Grund, warum ich Ihnen das erzähle, hier erzähle. Weil Sie gerade in seinem Haus sind. „Gotts lüttje Stuuv“, so nennen die Insulaner liebevoll ihre Kirche.
Ich dachte immer, sie hätten sie so getauft, dabei war er es. Hier auf Spiekeroog zieht sich der Liebe Gott ab und an zurück, um mal wieder zur Ruhe zu kommen, um all dem da draußen zu entfliehen und runter zu kommen.
Das ist in seinem Fall wörtlich gemeint. Er reißt direkt vom Himmel an, aber inkognito. Immer ohne Engel. Ohne diese flattrigen Gesell:innen, die ihn umschwärmen, wie Motten das Licht. Er lässt sich von ihnen nur bis Neuharlingersiel bringen; die letzte Strecke fährt er am liebsten mit Willi Jacobs auf seinem Kutter. Sagen Sie bitte nicht weiter, dass ich es Ihnen verraten habe!
Er kommt immer alleine. Auch ohne seinen Sohn. Deswegen hängt hier auch ein Bild von ihm. Das hat der hier aufstellen lassen, also Jesus, damit sein Vater, also Gott, ihn nicht vergisst. Macht man ja so.
Gott war das erst gar nicht recht, könnt ihr euch vorstellen. Als würde man hier eine Mutter-Kind-Kur machen, weil man den Alten nicht mehr sehen kann und dann steht, wenn man ankommt, gleich auf dem Nachtisch ein Riesen Foto von ihm. Quasi als konfrontationstherapeutischer Ansatz. Also jetzt nicht bei Jesus. So schlimm ist es dann auch nicht. Aber Gott braucht ab und an auch mal eine Auszeit. Hat er übrigens von Anfang an klar gemacht, dass es so ist und dass das auch für ihn gilt: Der 7. Tag. Das hier ist quasi Gottes 7.ter-Tag-Haus. Hier kann Gott mal anders sein. Alles mal nicht so groß, sondern gemütlich. Nicht so feierlich steif, sondern durchaus ein bisschen spießig heimelig. Mein Gott, das darf doch auch mal sein. Warum muss Gott immer so groß gedacht werden? Kann man ihm nicht auch mal was Kleines gönnen?
„Tu mir mal ne Flasche Bier“, hat mal ein Bundeskanzler gesagt. Gut, den zitiert man im Moment besser nicht; ist aber bei Gott auch nicht viel anders. Der ist zwar nicht in Ungnade gefallen, nur mehr in Vergessenheit geraten. Aber Gott nimmt auch das gelassen. Weil, das kennt er. Er ist vielleicht insgeheim sogar froh, dass er mal nicht so im Focus steht. Oder im Spiegel. Auch er möchte es mal etwas ruhiger angehen lassen. Die Pandemie war ein Klopper. Und dann noch der Krieg. Die Klimakatastrophe kommt ja erst noch. Dafür will er ein bisschen Kraft tanken. Und das macht er hier. Hier in diesem Haus. Ab und an in seiner lütjen Stuv.
Gut, jetzt ist es hier gerade recht voll drin, das mag er eigentlich nicht so. Aber so ganz ohne möchte er dann auch nicht sein. Gott ist auch ein bisschen eitel. Kann er sich auch erlauben. So ganz ohne Anerkennung kann ja keiner. Und wenn man schon mal Gott ist, dann darf das auch mal ein bisschen mehr sein. Aber den Petersplatz, diese riesigen Dome, die sind nicht so sein Ding. Kann man doch verstehen. Immer so laut und die vielen, vielen Menschen und überall Tauben.
Deswegen kommt er so gerne nach Spiekeroog, weil er hier nur eine kleine Stube hat, „Gotts lüttje Stuuv“. Die gehört ihm. Ihm ganz allein. Die hat er sie sich hier von den Insulanern nach seinen Plänen bauen lassen und selbst eingerichtet. Dafür dürfen sie sie dann auch für sich nutzen.
Schon vor gut 300 Jahren hat er den Insulaner gesagt, dass er hier ein Auszeithaus haben möchte. So ein bisschen friesische Gemütlichkeit hat er sich gewünscht, mit Holz an den Wänden und ein Muster drauf gemalt, ein paar Kerzenleuchter und in der Mitte so ein schöner goldener, aber nicht zu groß, „das kriegt ihr schon hin“. Und dann haben die Insulaner das gemacht. Zum Teil aus Treibholz, dass er dann aber für sie vorbei hat treiben lassen.
Und vor 100 Jahren haben sie dann noch mal ein bisschen nachgesteuert. Weil sich der Geschmack ja auch mal ändert. Eine Renovierung ist auch immer mal wieder notwendig. Das Porträt von Jesus sollte eine Überraschung sein. Ist auch gelungen. Jesus hat es gut gemeint. Gott liebte aber eigentlich dieses alte Abendmahlsbild, das jetzt etwas im Abseits hängt, an der Seite. Das Bild, wo sie alle am Tisch liegen und feiern. So war das früher hier und so wünscht er sich das auch: Geselligkeit, mal einen oder zwei Dornkart über den Durst trinken, weil man es sich hier erlauben kann, weil man es nie weit nach Hause hat. Deswegen gibt es z.B. auch keine Autos auf der Insel. Weil möglichst wenige Unfälle passieren sollen. Es soll keine Kriminalität geben, keine Kinder, die sich verlaufen können und Hunde, die jemand irgendwo anbindet und dann wegfährt, das geht hier auch nicht. All das gerade nicht.
Es sich mal gut gehen lassen, wie auf dem Bild. Alles noch im Rahmen, aber schon ein wenig „duun“, wie man hier sagt, tüdelig. Das Bild hängt jetzt etwas verschämt in der Ecke. Gut, ist schon länger mehr Erinnerung. Er ist auch älter geworden. Er sucht mehr jetzt die Abgeschiedenheit und Ruhe. Früher hat er es noch öfters mal Krachen lassen. Das macht er nicht mehr. Braucht er auch nicht, machen die Menschen schon genug ohne ihn. Es nervt ihn ehrlich gesagt auch immer mehr. Daher Spiekeroog, daher dieses kleine Tinyhaus Gottes. Alles drin, was er braucht: Kerzen, Altar, eine Orgel, eine Empore und eine Kanzel und Bänke, ein gemalter Sternenhimmel und ein paar bunte Bleiglasfenster, aber alles klein und bescheiden.
Übrigens, er kommt oft auch als „sie“ auf die Insel. Wenn Sie also morgen Ausschau halten und denken „Dass da, das muss er sein! Bestimmt! Die da kann das ja nicht sein.“ Lassen Sie sich nicht täuschen. Erinnern wir uns, er kam auch schon mal als Kind auf die Welt. Manche behaupten, dass er schon mal als Hund gesehen wurde. Aber das ist nur so eine spiekerooger Spiekenkookerrei, wie mit der spanischen Armada. Das erzähle ich ein andermal, wie Gott einen Krieg hier hat enden lassen. Genau hier, vor seiner „lüttje Stuuv“.